Neues im Schwerbehindertenrecht

Gordon Neumann

Ich werde in letzter Zeit relativ oft auf die Neuerungen im Schwerbehindertenrecht, bzw. das neue Bundesteilhabegesetz angesprochen. Es herrscht nach meiner Wahrnehmung eine gewisse Unsicherheit: Ist das neue Gesetz schon in Kraft getreten oder kommt das erst noch? Gibt es jetzt schon Änderungen? Wenn ja, welche? Was gibt es konkret in der arbeitsrechtlichen Praxis zu beachten?

 

Dieser Beitrag soll dazu dienen, für etwas mehr Klarheit auf diesem doch recht speziellen Rechtsgebiet zu sorgen.

 

1. Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 2016 das sog. Bundesteilhabegesetz verabschiedet. Dies hat etliche Änderungen im Sozialrecht zur Folge, was teilweise Auswirkungen auf das Arbeitsrecht hat. Es werden Änderungen in mehreren Stufen erfolgen. Zum 30.12.2016 ist bereits die "Reformstufe I" in Kraft getreten.

 

2. Was jetzt bereits neu ist (und daher für alle zu beachten!):

 

a) Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen

Es gibt einen neuen § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX. Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ist unwirksam, wenn die Schwerbehindertenvertretung nicht zuvor ordnungsgemäß beteiligt wurde.

Bislang war es so, dass die Schwerbehindertenvertretung vor einer Kündigung (genau wie bei jeder anderen Angelegenheit, die einen einzelnen oder die Gesamtheit der Schwerbehinderten betreffen) zu unterrichten und anzuhören ist.

Was vielen nicht klar ist: Die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung muss vor dem Antrag des Arbeitgebers beim Integrationsamt auf Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung erfolgen! Die SBV soll Gelegenheit haben, auf den Kündigungsentschluss Einfluss zu nehmen. Wenn der Arbeitgeber jedoch erst den Antrag beim Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung stellt, dann ist der Entschluss, kündigen zu wollen, längst gefallen, bevor die SBV angehört wurde. Das ist logischerweise so nicht vom Gesetzgeber gewollt.

Ist die Anhörung der SBV unterblieben, ist die Durchführung oder Vollziehung der jeweiligen Entscheidung auszusetzen und die unterbliebene Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung binnen einer Woche nachzuholen. So war es nach alter Rechtslage und so ist es auch nach der neuen Rechtslage.

Was aber jetzt wirklich neu ist:

Früher war die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen trotz einer unterlassenen Beteiligung der SBV wirksam. Übergeht der Arbeitgeber jetzt (also nach dem 30.12.2016) die SBV bei einer Kündigung, ist diese unwirksam.

Praktische Auswirkung nach meiner Einschätzung:

Meiner Meinung nach dürfte sich durch die Gesetzesänderung nur wenig ändern. Wenn ein Integrationsamt sein Handwerk versteht, muss es im Rahmen des Zustimmungsverfahrens (u.a.)  prüfen, ob die SBV "vorher" ordnungsgemäß angehört wurde. Stellt es fest, dass dies nicht der Fall war, muss es das Verfahren aussetzen und den Arbeitgeber darauf hinweisen, dass er die unterlassenen Beteiligung der SBV nachholen kann. Ignoriert der Arbeitgeger dies, muss allein deswegen die beantragte Zustimmung zur Kündigung durch das Integartionsamt versagt werden. Ohne Zustimmung des Integrationsamts durfte jedoch schon früher nicht gekündigt werden (bzw. die dennoch ausgesprochene Kündigung war dann sozusagen automatisch unwirksam).

Eine praktische Relevanz der Neuregelung dürfte sich daher nach meiner Einschätzung nur ergeben, wenn ein Integrationsamt seine Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung erteilt, obwohl die SBV zuvor nicht ordnungsgemäß beteiligt wurde.

Übrigens: Das Gesetz sagt weiterhin nichts dazu, wie viel Zeit die SBV hat, um zu einer beabsichtigten Kündigung Stellung zu nehmen. Die meisten Arbeitsrechtler gehen nach meinen Recherchen davon aus, dass es wohl analog zur Stellungnahmefrist des Betriebsrats sein muss:

Bei einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung - eine Woche

Bei einer beabsichtigten außerordentlichen, fristlosen Kündigung - 3 Tage

 

b) Schwerbehindertenvertretung

  • Die gewählte Vertrauensperson ist jetzt "schon" komplett für ihre Tätigkeit als SBV von der Arbeit freizustellen, wenn im Betrieb mindestens 100 schwerbehinderte Arbeitnehmer sind, § 96 Abs. 4 Satz 2 SGB IX (alte Rechtslage: 200)
  • Nach neuer Rechtslage haben jetzt auch die Stellvertreter der gewählten Vertrauensperson einen Schulungsanspruch, § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB IX
  • Bei einem Betriebsübergang entsteht jetzt ein sog. Übergangsmandat, § 94 Abs. 8 SGB IX (analog zum Betriebsrat; da ist es schon immer so gewesen, dass der BR die Geschäfte erst einmal weiterführt, vgl. § 21a BetrVG)
  • Alle 100 schwerbehinderte Arbeitnehmer darf ein weiterer Stellvertreter bestellt werden (also bei mehr als 100 Schwerbeh. --> ein Stellvertreter, bei mehr als 200 Schwerbeh. --> zwei Stellvertreter usw.), § 95 Abs. 1 Satz 5 SGB IX
  • Die Kosten einer Bürokraft müssen jetzt "definitiv" übernommen werden, § 96 Abs. 8 Satz 3 SGB IX

 

3. Fazit

Ob das neue Bundesteilhabegesetz ein "großer Wurf" war, will ich nicht beurteilen, das sollen andere entscheiden. Fakt ist, dass es zu größeren Änderungen im SGB IX gekommen ist (und noch kommen wird, z.B. wenn ab 01.01.2018 alle Paragraphen neu sortiert werden). Für den Bereich des Arbeitsrechts bestehen die größten Änderungen in Bezug auf die Beteiligungsrechte der SBV und der klaren gesetzgeberischen Aussage: "Ohne ordnungsgemäße Beteiligung der SBV bei einer beabsichtigten Kündigung ist diese unwirksam". Die praktischen Auswirkungen dürften nach meiner Einschätzung jedoch gering sein (siehe oben).

Die Vertrauensperson ist jetzt schon bei einer Zuständigkeit für 100 schwerbehinderte Menschen freizustellen und durch eine Bürokraft zu unterstützen. Bei einem Betriebsübergang, der nach meiner Erfahrung relativ oft vorkommt, gibt es jetzt ein Übergangsmandat für die SBV.

 

Bei weiterführenden Fragen wenden Sie sich gerne an Rechtsanwalt Neumann: neumann@wns-partner.de oder 040-32809780

WNS Will+Partner Fachanwälte | Rechtsanwälte mbB ist eine überregional tätige Fachanwaltskanzlei mit Standorten in Hamburg und Kiel. Rechtsanwalt Neumann berät als Fachanwalt für Arbeitsrecht seit vielen Jahren auf den Gebieten des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts einschließlich des Schwerbehindertenrechts. Er ist u.a. langjähriger Referent beim Institut zur Fortbildung von Betriebsräten (ifb) und schult regelmäßig Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen. Nutzen Sie das Angebot einer ersten kostenlosen Rechtseinschätzung.